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10. BERLIN BIENNALE | 9. 6. - 9. 9. 2018

Die 10. BERLIN BIENNALE hinterfragt die Notwendigkeit von Helden im postkolonialen Zeitalter




We don�t need another hero ist eine recht bekannte Rock-Hymne der schwarzen Pop-Ikone Tina Turner und stammt aus einem der dystopischen Mad-Max-Filme, die in den 1980er Jahren �ber die Kinoleinw�nde flimmerten. Das ebenfalls ausschlie�lich schwarze KuratorInnen-Team der 10. BERLIN BIENNALE f�r zeitgen�ssische Kunst um die aus S�dafrika stammende Leiterin Gabi Ngcobo hat sich diesen Songtitel als Motto f�r die Jubil�umsausgabe gew�hlt. Kunst und Heldentum - schlie�t sich das aus? Oder wer sind die neuen Helden der immer noch vorwiegend wei� dominierten Kunstgeschichte? Ist dieses Motto also auch als politisches Statement zu verstehen? �Wir sind alle postkolonial.� hat Gabi Ngcobo dem Goethe-Institut, das die Biennale auch finanziell unterst�tzt, auf die Frage geantwortet, ob sie bei der Ausrichtung den Fokus auf die von ihr kunstwissenschaftlich vertretenen Theorien des Postkolonialismus legen w�rde.

�Die Beteiligten setzen sich mit den anhaltenden �ngsten und Sorgen in unserer heutigen Zeit auseinander - �ngste, die durch die Missachtung komplexer Subjektivit�ten vervielfacht werden - und denken und handeln in ihrer Auseinandersetzung �ber den Kunstkontext hinaus.� Diese Ank�ndigung im Begleittext zur Biennale mag zun�chst recht kryptisch klingen, bedeutet aber nichts anderes als Berlin als internationalen Standort f�r miteinander im Dialog stehender K�nstlerInnen �ber Deutschland und Europa hinaus zu begreifen. Nach der Bedeutung der Kunst im webbasierten Computerzeitalter vor zwei Jahren hat sich die 10. BERLIN BIENNALE das Hinterfragen der globalen Zusammenh�nge und vielgestaltigen Psychosen der postkolonialen Welt zur Aufgabe gemacht.

Bunter, diverser und vor allem feministischer ist die diesj�hrige Biennale in jedem Fall geworden. Sie verteilt sich auf vier Ausstellungsorte. Neben dem traditionellen Herz der Biennale in den KunstWerken in der Auguststra�e sind das die Akademie der K�nste am Hanseatenweg, der kleine Pavillon neben der Volksb�hne am Rosa-Luxemburgplatz und als Neuentdeckung das Zentrum f�r Kunst und Urbanistik (ZK/U) in Moabit, in dem ein K�nstlerkollektiv in einem alten G�terbahnhof nahe dem Westhafen Ateliers und Urban Gardening betreibt. An einigen Tagen wird es auch im Hebbel am Ufer (HAU 2) Ausstellungen und Performances zu sehen geben.

*

Ein streng postkoloniales Konzeptkorsett hat Gabi Ngcobo der Biennale dann aber doch nicht angelegt, wenn sich auch viele der �ber vierzig geladenen internationalen K�nstlerInnen und Kunstkollektive in ihren Werken mit postkolonialen Themen besch�ftigen. Aus Zeitgr�nden sei hier nur auf einige Highlights verwiesen, auch um die Lust am Entdecken nicht zu schm�lern. Am besten l�sst sich das in der Akademie der K�nste am Hanseatenweg machen. Die Hallen und offenen Innenh�fe des markanten D�ttmann-Baus eignen sich besonders gut f�r eine m�glichst offene Ausstellungsarchitektur. Die einzelnen Positionen sind recht �bersichtlich angeordnet. Man hat auf �berladene Werkbeschreibungen und Hinweise auf Alter und Herkunft der K�nstlerInnen verzichtet. Die Kunst soll hier ganz f�r sich sprechen. Erg�nzende Erkl�rungen k�nnen die Interessierten von der recht �bersichtlich gestalteten Website oder aus einem kleinen Kurzf�hrer f�r 5 Euro ziehen.



Firelei B�ez, Nachbildung der Ruine des Palais Sans-Souci von Milot in Haiti vor der AdK am Hanseatenweg | Foto (c) Stefan Bock


Auffallend ist dann zun�chst die gro�e Ruine aus Pappmach�, die die haitianische K�nstlerin Firelei B�ez vor die Akademie der K�nste gestellt hat. Sie ist das gleichnamige Pendant des Potsdamer Schlosses Sanssouci, der weltber�hmten Sommerresidenz preu�ischer K�nige, das sich der haitianische K�nig Henri Christophe von 1810 bis 1813 auf der Karibikinsel errichten lie�, und von dem nach dem gro�en Erdbeben von 1842 nur nach die Ruinen stehen. Ein Sinnbild milit�rischer Macht, das nach dem Sieg der aufst�ndischen Sklaven �ber Engl�nder und Franzosen als Symbol einer neuen �ra feudaler Herrschaft gebaut wurde. Ein Held dieser K�mpfe ist auch der schwarze Oberst Jean-Baptiste Sans-Souci, der sp�ter von seinem K�nig verraten und get�tet wurde. Eine Geschichte von Revolution und kolonialer Restauration, der Firelei B�ez hier in Architektur, Zeichnungen und Collagen gedenkt. In der Installation through patches of wheat, corn and mud, die der in London lebende kolumbianische K�nstler Oscar Murillo in den Innenhof der Akademie der K�nste gebaut hat, werden in Industrieback�fen steinartige Brotlaibe aus einer Mischung von Mais und Ton aus verschiedenen Teilen der Welt gebacken. In lange, wie D�rme aufquellende Stoffschl�uche gepackt, bilden sie den globalen Verdauungsweg unserer Konsumgesellschaft.

Mit den Traditionen ihrer L�nder besch�ftigen sich Minia Biabiany aus Guadeloupe mit ihrer Installation Toli Toli aus Video und selbst gewebten Fischreusen sowie die chilenische K�nstlerin Johanna Unzueta, die in ihren frei im Raum stehenden Zeichnungen, die zwischen Plexiglasscheiben montiert sind, Motive von Stickrahmen aus indigener Handwerkskunst adaptiert. Die bereits 1999 verstorbene K�nstlerin Belkis Ay�n aus Kuba besch�ftigt sich in ihren ikonografischen Papierdrucken mit einem alten afrokubanischen M�nnerkult der Abaku�-Mythologie, in deren Zentrum die Frauenfigur Sik�n steht. �hnliches betreibt die aus Haiti stammende K�nstlerin Tessa Mars, die sich in ihren gro�- und kleinformatigen Papierarbeiten der Serie The Good Figth, die im ZK/U ausgestellt ist, als geschlechter�bergreifende Heldin Tessalines in einer feministisch umgeschriebenen Version eines haitianischen Nationalepos darstellt.



Belkis Ay�n, La consagraci�n, 1991, Triptychon, Teil II, Monoprint auf Papier, 225 � 300 cm | � Estate de Belkis Ay�n, Havana, Foto (c) Jose A. Figueroa - (Ort: AdK)


Immer wieder begegnet man auf den Rundg�ngen an den verschiedenen Ausstellungsorten den Acrylarbeiten der in Sansibar geborenen britischen K�nstlerin und letztj�hrigen Turnerpreistr�gerin Lubaina Himid. Sie sind in der Tradition der aus rechteckigen Stoffbahnen bestehenden afrikanischen Kleidungsst�cke namens Kanga gemalt. Die neunteilige Serie On the Night of the Full Moon besch�ftigt sich in Symbolen und Textaufschriften mit Gedichten schwarzer SchriftstellerInnen. Starke Positionen afrikanischer Malerei zeigen auch Herman Mbamba mit seinen farbenfrohen informellen Gem�lden, Lynette Yiadom-Boakye mit mehreren Portraitserien schwarzer Frauen und Portia Zvavahera, deren spirituelle Traumlandschaften wie das Triptychon Hapana Chitsva (Alles ist uralt) zu den Highlights in den Berliner Kunstwerken geh�ren.

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Die 10. BERLIN BIENNALE schafft es mit ihrer Auswahl aus verschiedenen Kunstformen durchaus, aktuell-politische Themen wie den Postkolonialismus gewinnbringend mit k�nstlerisch �sthetischen Fragen zu verbinden. Ganz in r�tliches Licht getaucht ist die gro�e Ausstellungshalle der Berliner KunstWerke. Hier hat die s�dafrikanische K�nstlerin Dineo Seshee Bopape eine Rauminstallation aus ziegelrotem Backsteinbruch, Eimern und einem Video von einem Auftritt Nina Simones arrangiert, zu der auch andere K�nstler Beitr�ge geleistet haben, wie etwa Jabu Arnell mit einer aus Pappe und Tape zusammengeklebten riesigen Discokugel. Untitled (Of Occult Instability) [Feelings] thematisiert u.a. Gewalt an Frauen und bezieht sich dabei auf den Roman A Question of Power von Bessie Head. Performance und Protestaktion gegen die britische Kolonialverwaltung verbanden sich in den sogenannten �Egwu�, die um 1929 nigerianische Frauen in den H�fen von Kolonialbeamten auff�hrten. Dabei wurde getanzt und gesungen. Den Spirit dieser gewaltlosen Women-Riots kann man in der Rauminstallation Sitting on a Man�s Head von Okwui Okpokwasili und Peter Born nachempfinden. Das Publikum ist aufgefordert, in einen mit Plastikbahnen umgrenzten Raum zu gehen und dort miteinander zu interagieren, um einen kollektiven Raum f�r eine neue Sprache, neue Gemeinschaftsbindungen und gemeinsame Fragen zu schaffen. Eine Art kreative Utopie.

Im ZK/U ist dagegen der Anti-Control Room von Heba Y. Amin zu sehen. Dort zeigt die aus �gypten stammende K�nstlerin ihre Videoarbeit Operation Sunken Sea, in der sie als Rednerin vor einem imagin�ren Kongress den Superkontinent Atlantropa propagiert. F�r diese Verbindung von Europa mit Afrika soll sogar das Mittelmeer trocken gelegt werden. Flankiert wird das von weiteren Videoscreens mit Reden bekannter Politiker aus der nordafrikanischen Geschichte wie Mussolini, Gaddafi, Gamal Abdel Nasser, dem britischen Au�enminister Anthony Eden, der mit Nasser das Sueskanalabkommen schloss, Chruschtschow und Erdogan. Ein nicht ganz unironischer Verweis darauf, wie nahe sich Utopien und totalit�re Ideologien sind. Durch kritisches Reenactment einer hindu-nationalistischen Radiosendung, die der indische Unabh�ngigkeitsaktivist Subhas Chandra Bose mit Unterst�tzung der Nazis 1941 bis 1943 von Berlin aus sendete, verweist die K�nstlerin Zuleikha Chaudharis auf dunkle Flecken in der Geschichte der indischen Unabh�ngigkeitsbewegung.

Mit dem �dipus-Mythos besch�ftigt sich die in den KunstWerken ausgestellte Videoarbeit ILLUSIONS, Vol. II, OEDIPUS der portugiesische Autorin und K�nstlerin Grada Kilomba. Sie untersucht darin mit einem Ensemble schwarzer DarstellerInnen �inwiefern Symbolik und Allegorie das Potenzial zur Unterdr�ckung in sich tragen�. In Deutschland ist Kilomba u.a. mit Beitr�gen zum allt�glichen Rassismus und Blackfacing im Theater bekannt geworden. Die schwarze Berliner K�nstlerin Natasha A. Kelly hat in Anlehnung an Ernst Ludwig Kirchners Gem�lde Schlafende Milli, in dem eine nackte, schwarze Frau als exotisches Objekt fungiert, den Portraitfilm Millis Erwachen gedreht. Darin erz�hlen acht deutsche K�nstlerinnen of Colour aus verschiedenen Genrationen, wie struktureller Rassismus auch im Kunstbetrieb greift, schwarze K�nstlerInnen von den Institutionen und Ressourcen ausgeschlossen werden und wie sie sich dennoch durchgesetzt haben. Ein �ber drei Jahrzehnte umfassendes Foto-Archiv schwarzer Perspektiven hat die Londoner Fotografin Liz Johnson Artur mit ihrem Black Balloon Archive zusammengestellt.



Natasha A. Kelly, Millis Erwachen (Milli�s Awakening), 2018, videostills (Collage), Video, S-W, Ton, ca. 45′ | Courtesy Natasha A. Kelly - (Ort: KW)


Nochmal um ganz deutsche �ngste geht es in dem gro�formatigen Doppelscreen-Video Again (Noch einmal) des Berliner Videok�nstlers Mario Pfeifer in der Akademie der K�nste �ber den Fall eines geistig verwirrten jungen irakischen Fl�chtlings, der von B�rgern der s�chsischen Kleinstadt Arnstorf in einem Akt von Zivilcourage, wie sie es selbst nannten, aus dem �rtlichen Supermarkt geschleift und an einen Baum gefesselt wurde. In einer Art Reenactment des Vorfalls untersuchen die SchauspielerInnen Mark Waschke und Dennenesch Zoud� mit anderen deutschen B�rgern verschiedener Herkunft, ob es sich tats�chlich um Zivilcourage oder doch einen Akt der Selbstjustiz handelt. Der Film offenbart das Versagen der s�chsischen Beh�rden gegen�ber einem an epileptischen Anf�llen leidenden Mannes und die zweifelhaften juristische Aufarbeitung des Falls des mittlerweile verstorbenen Irakers, bei der das Verfahren gegen die Beteiligten vor Gericht eingestellt wurde.


Stefan Bock - 12. Juni 2018
ID 10752
Weitere Infos siehe auch: http://berlinbiennale.de/de


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