Still present!
Die 12. BERLIN BIENNALE f�r zeitgen�ssische Kunst befasst sich mit der Heilung kolonialer Wunden
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�Die Welt ist von den Wunden gezeichnet, die im Laufe der Geschichte der westlichen Moderne entstanden sind. Werden sie nicht repariert, suchen sie unsere Gesellschaften weiterhin heim.� Die These des nie geheilten kollektiven Traumas postkolonialer Gesellschaften erl�utert Kader Attia, Kurator der 12. BERLIN BIENNALE, in seiner Einf�hrung zum Ausstellungsf�hrer der am vergangenen Wochenende er�ffneten Kunstschau, die in diesem Jahr an sechs Orten in Berlin stattfindet. Eine Reise durch die zeitgen�ssische Kunst mit Arbeiten von 70 K�nstler:innen und Kollektiven, die vorrangig aus L�ndern der s�dlichen Welt, vom afrikanischen Kontinent und aus Asien stammen. Still present! (Immer noch vorhanden!) ist das Motto der Biennale, die Kader Attia in Zusammenarbeit mit Ana Teixeira Pinto, Đỗ Tường Linh, Marie Helene Pereira, Noam Segal und Rasha Salti kuratiert hat. Ein weitestgehend feministischer Blick auf die Verwerfungen und Wunden, die Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus und der Raubbau an der Natur erzeugt haben. Und wo w�re das passender als in der Stadt der Kongokonferenz, bei der 1884 die europ�ischen M�chte die koloniale Aufteilung Afrikas regelten.
M�glichkeiten der Heilung durch Kunst sind vor allem die Teilhabe von bisher marginalisierten K�nstler:innen aus dem postkolonialen Raum am globalen Kunstbetrieb, aber auch die gerade in aller Munde befindliche Restituierung geraubter Kunst- und Kulturg�ter. Dazu z�hlen auch Strategien der Selbsterm�chtigung oder, wie es die Biennale nennt, der Wiederaneignung der Gegenwart durch das Zur�ckdr�ngen kolonialer und kapitalistischer Narrative eines Immer-weiter-so. Die Kunst als �Feld der Emotionen�, die laut Kader Attia durch Verlangsamung die Aufmerksamkeit auf eine andere Zeitlichkeit lenkt, die sich von der gegenw�rtigen radikal unterscheidet. Aber auch die Benennung und Archivierung kolonialer Verbrechen, oder von Personen, Orten und Daten des Freiheitskampfes z�hlen zu den wichtigen Aufgaben, denen sich neben der Politik vor allem auch die Kunst widmen kann.
Soweit die Theorie.
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In der Praxis sieht das in der AdK am Potsdamer Platz so aus, dass der Berliner K�nstler Moses M�rz mit seinen gro�formatigen Papier-Collagen einen netzartige Verlauf dekolonialer Bewegungen nachzeichnet, in dem vom Kunstraub bis zur Restituierung �rtliche, wirtschaftliche und politische Hintergr�nde und Zusammenh�nge kartografiert werden, was sich auch auf andere Bereiche wie Rassismus, patriarchale Gewalt oder Umweltzerst�rung anwenden l�sst.
Viel Wert legt die Biennale auch auf das Ausstellen von Dokumenten. Thema Erinnern und Archivieren. In der AdK am Pariser Platz sieht man in Vitrinen Dokumente zum Stand der Restitution in den Museen Westeuropas. Zeitgeschichtliche Kunstb�nde und die Gegen�berstellung ethnologischer Kunstobjekte mit den Bildern wie Emil Nolde oder Ernst Ludwig Kircher zeugen von der kulturellen Aneignung der deutschen Expressionisten, die sich von Artefakten aus Afrika in den damaligen V�lkerkundemuseen inspirieren lie�en. Eine Installation mit Kruzifixen aus verschiedenen ethnologischen Sammlungen verdeutlicht den Einfluss der Kirche in den damaligen Kolonien.
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Kruzifixe, verschiedene Sammlungen; Installationsansicht, 12. Berlin Biennale, Akademie der K�nste, Pariser Platz - Foto: dotgain.info
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In den KunstWerken (KW) in der Auguststra�e kann man eine Auswahl von Dokumenten aus dem Archiv der Avantgarden in Dresden sehen. Eine Schenkung des italienischen Kunstsammlers und M�zen Egidio Marzona an die Kunstsammlungen Dresden. Hier sind es vor allem B�cher und Zeitschriften zum Thema Kolonialismus, Rassismus, Freiheitskampf und Feminismus. Die US-amerikanische K�nstlerin Ariella A�sha Azoulay, Angeh�rige der Narragansett und Wampanoag, besch�ftigt sich in ihrer aus Zeitdokumenten und Fotos bestehenden Installation The Natural History of Rap mit den Massenvergewaltigungen von Frauen nach der Befreiung von Berlin. Das ist keine Relativierung der Naziverbrechen, sondern vertritt die These, dass Fotos, die diese Vergewaltigungen nicht zeigen, nur in Zusammenhang mit den Berichten der Frauen zu sehen sind.
Eine Art der zeitgen�ssischen Archivarbeit ist wohl die Ton- und Fotodokumentation der t�rkischst�mmigen K�nstlerin Nil Yalter, die in Exile Is A Hard Job Fotos und Gespr�chsvideos mit Frauen und Familien aus Portugal oder der T�rkei verbindet. Der franz�sische Fotograf Mathieu Pernot hat in einer Foto-Serie �ber Jahre die Romnja-Familie der Gorgans aus S�dfrankreich portr�tiert. In ihrer kunstvoll �berblendeten Fotoportraits zeigt die K�nstlerin Etinosa Yvonne aus Nigeria Frauen, die Opfer von Vergewaltigung, Zwangsheirat und des Boko-Haram-Terrors wurden.
Was f�r sie echte Restituierung bedeutet, zeigt in den KW Berlin die in Frankreich lebende K�nstlerin Deneth Piumakshi Veda Arachchige, die ihre Wurzeln in Sri Lanka hat. Die Nachfahrin der Indigenen Adivasi schuf einen 3-D-Druck ihres K�rpers (Self-Portrait as Restitution - from a Feminist Point of View), der die Replik eines einst zu Forschungszwecken von einer Schweizer Wissenschaftsexpedition entwendeten Sch�dels eines Adivasi-Mannes in der Hand h�lt. Derartige Artefakte befinden sich noch immer in ethnologischen Sammlungen Westeuropas. In der Voodoo-Tradition stehen dagegen die k�nstlerisch mit Pailletten und Objekten verzierten Sch�delskulpturen des haitianischen K�nstlers Dubr�us Lh�risson in der Akademie der K�nste am Pariser Platz. Spirituell inspiriert ist auch der 14-teilge Kreuzwegzyklus der in den USA lebenden vietnamesischen K�nstlerin Tammy Nguyen. In den ikonografischen Mixed-Media-Aquarellen �berlagern Wildtiere und Dschungelpflanzen die christlichen Motive und zeigen so einen neuen Blick auf die Geschichte.
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Tammy Nguyen, Serie von Malereien, 2022; Installationsansicht, 12. Berlin Biennale, Akademie der K�nste, Hanseatenweg - Foto: dotgain.info
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Viele der ausgestellten Kunstwerke sind in traditioneller Handarbeit geschaffen oder verwenden traditionelle Materialien. Die in Italien geborene K�nstlerin senegalesischer Herkunft Binta Diaw hat in den KW Berlin eine netzartige Installation aus k�nstlichem Haar und Getreidepflanzen geschaffen, die an Fluchtgeschichten nach Amerika verschleppter afrikanischer Sklavinnen erinnert. Die mehrteilige Instalation I Was Not Created for Pleasure der indischen K�nstlerin Mayuri Chari [s. Foto unten] besteht aus bestickten Stoffen und getrockneten Kuhfladen in Vulvenform. Die Form der Tapisserie verwendet der US-amerikanische K�nstler Noel W Anderson f�r seine optisch verzerrten Nachbildungen von historischen Fotografien wei�er Polizeigewalt gegen�ber schwarzen M�nnern.
Das Thema Gewalt behandelt auch die Fotoinstallation des Franzosen Jean-Jacques Lebel. In einem apokalyptischen Labyrinth aus Fotow�nden hat der K�nstler SW-Fotos von durch die US-Luftwaffe zerst�rter irakischer St�dte den bekannten Farb-Schnappsch�ssen von Folterungen Gefangener im ber�chtigten Gef�ngnis Abu Ghraib durch Angeh�rige der US-Armee gegen�bergestellt. Der Hamburger Bahnhof zeigt eine Vielzahl von Foto- und Videoarbeiten, die sich der Kolonial-Geschichte und dem Streben der einst kolonisierten V�lker nach Selbstbestimmung und -erm�chtigung befassen und zum l�ngeren Verweilen einladen. Ein sehr sch�nes und eindrucksvolles Beispiel daf�r ist das Video Les Indes Galantes (Das galante Indien) des franz�sischen K�nstlers Cl�ment Cogitore. Es zeigt T�nzer:innen verschiedener Hautfarbe beim einem sogenannten Krumping-Battle. Sie performen Freestyle zur Musik der 1735 entstandenen titelgebenden Ballettoper des Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau. Ein im wahrsten Sinne heilender Moment.
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Mayuri Chari, I Was Not Created for Pleasure, Deneth Piumakshi Veda Arachchige; Installationsansicht, 12. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art - Foto: Silke Briel
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Stefan Bock - 14. Juni 2022 ID 13673
Weitere Infos siehe auch: https://12.berlinbiennale.de/
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