17. Januar 2013, Haus der Berliner Festspiele
DAS SCHLOSS
Eine Winterreise von NOVOFLOT
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Mit ihrem neuen Musiktheaterabend Das Schloss. Eine Winterreise nach Franz Kafka ist die freie Berliner Opernkompanie Novoflot, die bisher an kleineren Spielorten wie den Sophiensaelen oder dem Radialsystem beheimatet war, nun zu Gast im Haus der Berliner Festspiele. Durch halbversteckte T�ren und enge, schwarze G�nge betritt das Publikum den Bauch des riesigen Theaters, die Hinterb�hne, und befindet sich gleich mitten in einer r�tselhaften, kafkaesken Welt, wird gewisserma�en selbst zu dem Landvermesser K., dem Protagonisten des Romanfragments Das Schloss.
Der Abend beginnt mit einem Prolog, in dem textlich wie auch bildlich bereits einige Versatzst�cke aus der Welt des Romans auftauchen. Wir nehmen auf einer Zuschauertrib�ne Platz, auf Strohs�cken, die ebenso zu den (wenigen) im Roman erw�hnten Requisiten geh�ren wie der gro�e Pferdeschlitten, der die linke Seite der B�hne einnimmt. Auf ihm zahlreiche Kinder verschiedenen Alters, wie schlafend. Die rechte Seite der B�hne ist von den dicht im Viereck zusammengedr�ngten Musikern des ensemble mosaik besetzt: Ihr Platz ist an den Seiten begrenzt durch Pauke, Vibrafon und ein Klavier, auf dem oben noch ein Keyboard steht; der Keyboarder thront erh�ht auf einem Lautsprecher, der auf die offenen Klaviersaiten gerichtet ist, die Pianistin und der Klarinettist sitzen rechts und links eine Ebene unter ihm. In dieser Gedr�ngtheit wirkt das kleine Orchester mit seinen synchronen Spielbewegungen wie ein gro�es Tier, ein einziger Klangk�rper, der sich auch erstmals bemerkbar macht mit einem gemeinsamen Sto�seufzer. Dieses erste Arrangement, das vervollst�ndigt wird durch eine mit rotem Klebeband verbundene Ansammlung von Ausschnitten aus Kafkas Roman an der R�ckwand der B�hne, die im Laufe des Prologs erg�nzt werden, ist eines von vielen r�tselhaft-eindrucksvollen Bildern des Abends.
Kaum hat das Publikum auf den Strohs�cken Platz genommen, so wird es auch schon selbst als K. angesprochen, mit den S�tzen, die der verhinderte Landvermesser zu Beginn seines Aufenthaltes in dem am Fu�e des Schlosses gelegenen Dorf zu h�ren bekommt: "reundschaft ist bei uns nicht Sitte, wir brauchen keine G�ste", so teilen uns freundlich aber bestimmt die inzwischen erwachten Kinder aus dem Schlitten und von den Technikgalerien herab mit. Die kurzen Texte, jeweils nur wenige S�tze aus unterschiedlichen Passagen des Romans, etablieren ein immer wiederkehrendes Hauptthema des Abends: die Ablehnung und den st�ndigen Ausschluss K's aus der Gesellschaft des Dorfes, in das er als Fremder kommt.
Die direkte Ansprache erweist sich als wirksames Mittel, um das Publikum gleich zu Beginn in die seltsame und abweisende Welt des Schlosses hineinzuziehen. W�hrend K. bei Kafka den ganzen Roman hindurch versucht, ins Schloss herein zu kommen, sind wir mit Novoflot von Anfang an darin, ja, wir geraten immer tiefer hinein. Denn kaum hat man sich in der Rolle des K gedanklich eingerichtet, da hebt sich die R�ckwand, ein Eiserner Vorhang, und wird zum Tor zu einem neuen Raum. Zwei kleine M�dchen locken das Publikum zu diesem weiteren Schritt ins Innere, es geht auf eine weitere Zuschauertrib�ne; mit Sicht auf eine gro�e Anzahl rustikaler Wirtshaustische und -st�hle, die mit Telefonen und Schreibger�ten best�ckt sind, und so je nach Bespielung und Situation zugleich Dorfwirtshaus und Kanzlei des Schlosses sein k�nnen.
Zu der ausschlie�lich in braun und wei� gekleideten Schloss- und Dorfgesellschaft (bestehend aus den Kindern, den sich jetzt frei bewegenden Musikern und dem Live-Zeichner Ulrich Scheel), treten nun drei K's hinzu: Die S�ngerInnen Hans-Peter Scheidegger, Hanna D�ra Sturlud�ttir und Yuka Yanagihara, durch ihre grau-rote Kleidung als Fremde, als Au�enstehende sofort erkennbar (B�hne und Kost�me: Elisa Limberg).
Das schon zu Beginn angeschnittene Thema der Abweisung und des Ausschlusses wird hier nun wieder aufgenommen mit Franz Schuberts "Gute Nacht", gesungen von den drei K's, denen die Kinder immer wieder unbeirrbar kurz vor dem Hinsetzen die Wirtshausst�hle wegziehen: eine sch�ne visuelle �bersetzung der Unbehaustheit. "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus...", ein Satz, den man auch dem Landvermesser K. am offenen, Fragment gebliebenen Ende des Romans in den Mund legen k�nnte, nachdem er im Dorf seine Braut Frieda gefunden und wieder verloren hat. Nach diesem Prinzip funktioniert der ganze Abend, szenisch-bildlich ebenso wie musikalisch: Viele Str�nge, viele Versatzst�cke, deren oft lockere Assoziation miteinander jedoch stimmig und nachvollziehbar ist. Novoflot erz�hlen hier keine Geschichte, und dennoch hat der Abend einen roten Faden durch seine konsequente Struktur, zudem bewegt er sich im Ganzen doch chronologisch an den Stationen, den R�umen des Romans entlang. Und die R�ume sind an diesem Abend eben auch zentrales Thema, denn es bleibt nicht bei dem einen Ortswechsel vom Beginn: Das Publikum sitzt nun auf der Drehb�hne, und bald fahren wir r�ckw�rts in immer wieder neue R�ume hinein, die sich durch Heben und Senken oder auch durch ein halbes �ffnen der auf allen Seiten vorhandenen Eisernen Vorh�nge noch weiter variieren lassen. So blickt man mal zur�ck in den Raum mit dem gro�en gr�nen Schlitten, oder in einen neuen Raum, der wohl am ehesten den Herrenhof symbolisiert und mit zahlreichen mehrarmigen 50er-Jahre-Deckenlampen ausstaffiert ist, die ebenfalls abgesenkt werden k�nnen und so z. B. den S�ngern den Weg zur�ck in den Hauptb�hnenraum versperren.
Auch musikalisch werden gewisserma�en drei verschiedene R�ume durchschritten, die immer wieder miteinander in Interaktion gebracht werden: Die assoziative Verbindung der Winterreise von Franz Schubert mit Kafkas Schloss erschlie�t sich leicht: Wie der Ich-Erz�hler in Schuberts Liedern, so bewegt sich auch K. im Roman durch eine verschneite, vereiste Landschaft, ganz konkret in der geschilderten winterlichen Umgebung, aber auch metaphorisch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in der eigenen Gef�hlswelt. Die Komponistin Aleksandra Gryka, die schon oft mit Novoflot gearbeitet hat, hat eigene "Schubert-Wiederg�nger" und Schloss-Kompositionen beigesteuert, u. a. auch einige Chor-St�cke f�r den Knabenchor Berlin, dessen Mitglieder sich auch unter den Kindern auf der B�hne befinden. Als drittes musikalisches Element streut der Jazz-Posaunist und Komponist Nils Wogram zahlreiche Posaunen-Improvisationen ein, die dem Abend einen ganz anderen, jazzigen, swingigen Touch verleihen.
Die sehr verschiedenen musikalischen Elemente treten in Beziehung zueinander, die unterschiedliche Musik n�hert sich einander an, reibt sich aneinander, reibt sich auf bis zur Sprengung von Struktur und Melodie... Schuberts Musik bildet die Grundlage, wird auch mal in oder nah an der urspr�nglichen Version dargeboten, oft neu verteilt auf die drei S�nger, um dann immer wieder durch Umstellungen und neue Instrumentierungen ver�ndert, �bermalt zu werden. Die neu komponierte Musik ist recht eing�ngig, gelegentlich auch gem��igt atonal, mikrotonal, oder durch Ger�usche der Instrumentalisten oder aus der B�hnenhandlung (z. B. klingelnde Telefone) angereichert, aber immer gut zu verfolgen und in Kommunikation mit Schubert. Oft geht die Bewegung von der eher geschlossenen Form zur Improvisation, wenn etwa ein Schubert-Lied, begonnen im Originalsatz mit Soloklavier (Saori Tomidokoro) und Gesang, durch Einw�rfe des Orchesters oder durch Wograms Posaune zun�chst in einer Nebenstimme zur�ckhaltend begleitet, dann umspielt, dann schleichend im Rhythmus ver�ndert, verjazzt, wird. Die Posaune wird vom Mit- zum Gegenspieler, �bernimmt die Hauptstimme bzw. f�hrt sie auf ihre ganz eigene Art weiter bis hin zur freien Improvisation.
So unterh�lt man sich gut f�r eine lange Zeit, im st�ndigen Wechsel der musikalischen und visuellen R�ume. Erw�hnt werden m�ssen in diesem Zusammenhang auch noch die feinen Live-Zeichnungen von Ulrich Scheel, die per riesiger Projektionen die schwarzen Theaterw�nde aufrei�en und erweitern zu Landschaften, Geb�uden, Figuren. Und doch stellt sich nach zwei Stunden schlie�lich Erm�dung ein; so toll das Fahren auf der Drehb�hne sein mag, in seiner H�ufung nutzt es sich ab, und als schlie�lich noch eine Versenkung hinunterf�hrt, in die Hans-Peter Scheidegger den gr�nen Schlitten ziehen muss wie in einen H�llenschlund, w�hrend die Posaune eben das musikalisch zu illustrieren scheint, da wird es zu viel und vielleicht auch zu konkret, da wird das Bewegen der Theatermaschinerie zum Selbstzweck. An dieser Stelle w�nscht man sich, der Abend h�tte eine halbe Stunde k�rzer gedauert, denn bis dahin gelingen im Verein mit der Musik immer wieder grandiose Bilder, meist r�tselhaft und nicht komplett zu dechiffrieren, und als kurz nach der "H�llenfahrt" der Eiserne zum Zuschauerraum sich hebt und dort weit hinten, in den letzten Reihen, im Zwielicht einer Projektion die S�nger nach und nach erscheinen, verloren in dem riesigen Raum, und Schuberts "Wegweiser" erklingt, ist man wieder vers�hnt.
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Das Schloss im Haus der Berliner Festspiele - Fotoquelle: http://www.berlinerfestspiele.de (C) Thomas Aurin
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Nora Mansmann - 23. Januar 2013 ID 6502
DAS SCHLOSS (Haus der Berliner Festspiele, 17.01.2013)
Regie: Sven Holm
Musikalische Leitung: Vicente Larra�aga
Komposition: Aleksandra Gryka
Posaunenimprovisation: Nils Wogram
B�hne und Kost�me: Elisa Limberg
Dramaturgie: Fadrina Arpagaus
Produktionsleitung: D�rte Wolter
Mit: Hans-Peter Scheidegger, Hanna D�ra Sturlud�ttir, Yuka Yanagihara, Nils Wogram, Ines Hu, Ulrich Scheel, dem ensemble mosaik sowie Kinderchor und Statisterie
Urauff�hrung war am 17. Januar 2013
Weitere Termine: 24. - 26. 1. 2013
Weitere Infos siehe auch: http://www.novoflot.de
Post an Nora Mansmann
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